21. Kapitel
Die Kerzen warfen flackernde Schatten über die goldverzierten Möbel und die kostbaren Berberteppiche, mit denen das private Empfangszimmer ausgestattet war. Patrick war schon einmal hier gewesen, hatte sich mit der Gastgeberin die Zeit vertrieben, aber das war lange, bevor er seine Frau kennen gelernt hatte. Vielleicht war das der Grund, warum heftige Schuldgefühle an ihm nagten, als nun sein Blick auf die beiden Knaben fiel, die sich ängstlich hinter einen Diwan kauerten. Beide waren beinahe nackt, trugen lediglich etwas, das wie ein Lendenschurz aussah, und beide trugen eiserne Fußfesseln. Sie konnten nicht älter sein als höchstens sechzehn, Opfer eines krankhaften Appetits.
Angetrieben von seinem Rachedurst, begannen seine Fangzähne zu wachsen, bohrten sich in seine Unterlippe. Es roch nach Angstschweiß, Blut und Sex. Der Angstgeruch kam von den Knaben, die ihm nicht in die Augen schauen konnten. Und die anderen Gerüche kamen aus dem Nachbarzimmer, dem Schlafgemach, wie er wusste.
Dafür würde Rosalyn bezahlen. Sie hatte ihren Eid verraten. Sie hatte diesen Jungen und wer weiß wie vielen anderen Schreckliches angetan. Dafür musste sie bestraft werden. Und er, Patrick, litt darunter. Denn er kannte sie er war ihr Clanführer ... Er hätte es wissen müssen. Er hätte spüren müssen, dass etwas nicht stimmte.
Eine Bewegung hinter ihm kündigte die Ankunft von Ismail an. Als dieser die kauernden Knaben erblickte, nahmen seine Augen einen dunklen, bedrohlichen Ausdruck an. Er wollte etwas sagen, doch Patrick legte den Finger auf die Lippen und wies auf die Innentür. Ismail fletschte die Zähne, nickte aber und deutete zuerst auf die Jungen, dann auf seinen Kopf. Patrick verstand: Die Knaben mussten fortgebracht werden, und dann sollte jemand das Erlebte aus ihrem Gedächtnis löschen, damit man sie nach Hause schicken konnte.
Mit einem freundlicheren Ausdruck trat Ismail auf die Knaben zu, die Hände in einer Geste des Friedens ausgebreitet. Die Knaben duckten sich erschreckt, und einer von ihnen wimmerte wie ein verletztes Tier. Patrick dagegen schritt lautlos auf die Innentür zu, dorthin, von wo der Blutgeruch kam. Seine Haltung war täuschend locker. An der Türe befanden sich Schnitzereien von Putten, eine Analogie, deren Ironie Patrick keineswegs entging. Lautlos stieß er die Tür auf und ließ den Blick über die vor ihm liegende Szene schweifen.
Die beiden nackten Vampire waren über einen dritten Jungen gebeugt und saugten ihm gierig das Blut aus. Patrick schnupperte. Der Junge war bereits tot, wie er erkannte; das gierig saugende Paar war fast am Ende.
Patrick spannte die Muskeln unter seinem dunklen Mantel an und handelte dann ohne Vorwarnung. Die beiden waren die Letzten auf der Liste derer, die Delphine ihm unter Zwang genannt hatte. Und es bestand keinerlei Zweifel an der Schuld des Pärchens, ebenso wenig wie an der Schuld der anderen.
Solche Monster hatten in seinem Clan nichts zu suchen. Sie hatten auf dieser Welt nichts zu suchen. Die Menschen besaßen ihre Polizei, um ihren Gesetzen Geltung zu verschaffen. Er war der Richter seiner Leute. Es war seine Pflicht, ebenso wie Ismails, Alexanders und Isabelles, die Welt vor diesen Mördern zu beschützen.
Der männliche Vampir, Federico, ein Besucher aus dem südlichen Clan, bemerkte ihn als Erster. Sein Kopf zuckte hoch, sein Mund triefte vor Blut, und seine Augen blickten ihn rotfunkelnd an. Federico fauchte wie ein Tier. Da zuckte auch Rosalyns Kopf hoch. Ihre schwarzen Augen weiteten sich vor Schreck.
Gut, wenigstens eine, die genug Verstand hat, um sich zu fürchten.
»Ihr habt gegen unsere Gesetze verstoßen.«
Federico erlaubte ihm nicht weiterzureden. In seinem Blutrausch stürzte er sich auf Patrick. Aber dieser hatte den Angriff erwartet, trat leichtfüßig beiseite und packte den Vampir beim Kopf. Ein Ruck, und das Genick des Vampirs brach mit einem hässlichen Knirschen.
Das einzige Geräusch im Raum war Rosalyns Keuchen. Patrick trat einen Schritt zurück und zog das Schwert, das er sich an seinen Gürtel geschnallt hatte, Rosalyn immer im Auge behaltend. Dann holte er aus, die Klinge blitzte, und der Kopf seines Gegners rollte blutspritzend über den Fußboden.
Rosalyn tat keinen Mucks, aber ihre Augen huschten mit einem panischen Ausdruck zwischen der Leiche des Jungen und Federicos Kopf hin und her.
Des Schwert gesenkt, dessen bluttriefende Spitze über den cremeweißen Teppich schleifte, trat Patrick auf Rosalyn zu. Rosalyn hob abwehrend die Arme und wich auf dem Bett zurück.
»Wir haben nichts Falsches getan. So sind wir, es liegt in unserer Natur!«, rief sie heiser.
Patrick hörte gar nicht hin. Er hatte jenen Teil seines Gehirns, der Mitleid, Bedauern, Schuldgefühle empfand, abgeschaltet, jenen Teil seines Gehirns, der fühlte. Er war Clanführer. Er war für das Wohlergehen seiner Leute verantwortlich. Sie war eine Gefahr für seine Leute. Mehr gab es nicht zu sagen.
»Nicht! Warte! Dafür wurden wir geschaffen! Begreif doch, wir haben keine Wahl, das ist, was wir sind!«, flehte Rosalyn und wich noch weiter zurück. »Was ist mit dem, was zwischen uns war? Hat das denn gar keine Bedeutung für dich?«
Er war nur noch wenige Schritte von ihr entfernt. »Du wusstest vorher, was für Konsequenzen dein Handeln hat. Du hast Unschuldige getötet und den ganzen Stamm in Gefahr gebracht. Deine Hinrichtung kann hier und jetzt oder später vor dem gesamten Clan stattfinden. Du hast die Wahl.«
Rosalyn fletschte die Zähne und fauchte.
»Sie werden kommen! Sie werden dich kriegen, dich und deine hübsche kleine Frau. Du wirst ihnen nicht entkommen!«
Patrick zuckte nicht mit der Wimper. »Deine Freunde sind alle tot, Rosalyn. Entscheide dich.«
»Nein!«, kreischte Rosalyn und ging ihm mit gezückten Krallen an die Kehle. Patrick wich aus, doch ihre scharfen Fingernägel erwischten ihn noch und hinterließen tiefe Kratzer auf seiner Brust. Rein instinktiv warf Patrick sie aufs Bett zurück und trat mit dem Fuß auf ihre Kehle. Rosalyn bäumte sich auf, strampelte, doch als sie merkte, dass es nichts nützte, ließ sie die Arme sinken und blieb still liegen.
Als Patrick sich kurz darauf vom Bett erhob, stand Alexander in der Tür und schaute ihn an. Patricks Hemd war blutbespritzt und zerrissen, aber seine Hände zitterten nicht.
»Es ist vorbei.« Alexander trat um Patrick herum und zog das blutige Schwert aus Rosalyns Herzen. »Ich werde Kiril bitten, die Leichen zu beseitigen.«
Patrick nickte. Er hatte getan, was er tun musste. Die Welt war jetzt wieder ein sichererer Ort.
»Patrick?« Alexander musterte seinen Freund ohne Anklage.
»Ich werde eine Clansversammlung einberufen«, verkündete Patrick. Sein Blick fiel unwillkürlich auf die Leiche des Knaben. »Delphine soll vor aller Augen angeklagt und verurteilt werden. Und alle, die mit den Wahren Vampiren sympathisieren, sollen sehen, dass wir unsere Gesetze ernst nehmen und jeden bestrafen, der sie bricht.«
»Wir werden an deiner Seite sein«, versprach Alexander. Dann seufzte er. »Es wird Zeit, nach Mikhail zu schicken.«
Mikhail. Patrick nickte. Er schuldete dem Cousin seiner Frau eine ganze Menge. Hoffentlich gelang es ihnen, Mikhail in Shelton Hall zu kontaktieren. Er wollte seine kleine Catherine so schnell wie möglich wiederhaben. Seit sie fort war, hatte er das Gefühl, als würde ein Teil von ihm fehlen. Aber jetzt war alles gut. Die Gefahr war vorüber.
Die drei machten sich auf den Weg nach Hause.